0.
Abstract
Am
Beispiel einer
Forschungsarbeit über Führungen in Kunstmuseen wird
die sozialwissenschaftliche
phänomenologische Analyse vorgestellt. Der Forschungsansatz,
der auf
philosophischen Überlegungen Edmund Husserls und
soziologischen bzw.
sozialwissenschaftlichen Konzepten von Max Weber und Alfred
Schütz gründet, nimmt
seinen Ausgangspunkt in der alltäglichen Lebenswelt und
versteht die dort zu
beobachtenden Phänomene als einzig zugänglichen
Niederschlag subjektiv
gemeinten Sinns. Methodisch ist daher die Deskription solcher
Phänomene
zentral; davon ausgehend werden interpretativ Bedeutungselemente
herausgearbeitet und Stück für Stück der
Wesenskern des Phänomens rekonstruiert.
1.
Forschungszusammenhang
1.1
Fragestellung
Wie
kann eine komplexe,
bislang kaum erforschte Situation kultureller Bildung sinnvoll
erforscht
werden? In meiner Forschungsarbeit (1) nahm ich eine typische
kunstpädagogische
und museumspädagogische Situation in den Blick,
nämlich das angeleitete
Bildgespräch einer Gruppe, insbesondere die klassische
Führung im Kunstmuseum,
bei der eine Pädagogin oder ein Pädagoge vor einem
Kunstwerk mit einer Gruppe
spricht. Weiter gefasst würden auch andere Situationen
darunter fallen,
beispielsweise wenn Kindergartenkinder einen Ausstellungsraum erkunden,
einer
Erzieherin oder einem Erzieher ihre Assoziationen berichten, ihre
Entdeckungen
zeigen und darüber sprechen. Die Gemeinsamkeiten solcher
Situationen liegen
darin, dass die TeilnehmerInnen eine Gruppe bilden, dass ein Kunstwerk
da ist,
dass eine Form von pädagogischer Anleitung praktiziert wird
und dass eine
Interaktion zwischen allen Beteiligten bzw.
Komponenten stattfindet.
Dieses Grundmuster stellt eine Kernsituation der
Kunstpädagogik und
Museumspädagogik dar.
Doch
über diese in der
kunst- und museumspädagogischen Praxis alltägliche
Situation ist wenig bekannt.
Daher sollte sie exploriert werden: Es ist entscheidend, ihre
Strukturen
nachzuvollziehen, um fundiert fachliches Handeln konzipieren oder
praktizieren
zu können. Dies gilt unabhängig davon, welche Form der Kunstvermittlung man
für wünschenswert oder angebracht
hält. Zunächst gilt es, Handlungsmuster und
Strukturzusammenhänge solcher
Situationen zu rekonstruieren.
1.2
Forschungskontext
Die
Fragestellung ist eine im Kern kunst- und museumspädagogische,
daher wurde sie
im Rahmen dieser Disziplinen untersucht. Doch sie berührt
weitere Disziplinen
und Diskurse. So galt es – erstens – zu
berücksichtigen, dass eine begriffliche
Unschärfe besteht: Die zu untersuchende Situation wird im
Diskurs insbesondere
als ‚Kunstvermittlung‘,
‚Kunstrezeption‘ oder ‚Sprechen
über Kunst‘ bezeichnet.
Jeder dieser Begriffe bringt Implikationen über Kunst und
Pädagogik mit sich.
Und die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen ästhetischem
Objekt (2),
RezipientInnengruppe und Pädagogin bzw. Pädagoge
zieht weitere Fragen nach
sich: Wie kann der Gegenstand dieser Wechselbeziehung, also das
Kunstwerk/ästhetische Objekt/Exponat verstanden werden? Und
wie ist die
Handlung präziser zu bestimmen – als Interaktion,
Bildung, Kommunikation,
ästhetische Erfahrung… ? Auf diese Weise finden
sich – zweitens – theoretische
Bezugspunkte nicht nur in Kunst- und Museumspädagogik, sondern
auch
beispielsweise in der Allgemeinen Pädagogik, der Soziologie
oder der
Kunstgeschichte. Ferner ist– drittens – der
Forschungsstand höchst heterogen.
Besucherforschung im Museum (zur Übersicht: Reussner 2010)
findet meist im
Rahmen der wissenschaftlichen Disziplinen Psychologie, Soziologie oder
Allgemeine
Pädagogik statt und ist durch die jeweiligen
Fachverständnisse und Methoden
geprägt. In der Kunstpädagogik liegen zahlreiche
bildungstheoretische
Positionen vor; meist werden schulische Zusammenhänge
fokussiert und eher bildnerisch-praktische
denn rezeptive Aktivitäten. Doch kann in der
Kunstpädagogik auf ein sorgfältig
ausgearbeitetes und erprobtes methodisches Instrumentarium
zurückgegriffen
werden, nämlich die qualitative empirische Forschung (Peez
2000), und es liegen
einige empirische Arbeiten zur Kunstrezeption vor.
Museumspädagogik wiederum
ist weniger als wissenschaftliche Disziplin entwickelt als andere
Fächer (3):
Im angelsächsischen Diskurs werden
museumspädagogische Fragen vorwiegend in die
Besucherforschung und eine generelle museologische Debatte eingebettet
(Hein
1998, Hooper-Greenhill 2007). Im deutschsprachigen Bereich
überwiegen in der
museumspädagogischen Literatur Praxisberichte und
-vorschläge (so
beispielsweise in Übersichtswerken wie Schmeer-Sturm et al.
1990); daneben
besteht auch museumspädagogische Forschung, in
jüngerer Zeit insbesondere
empirische Forschung (beispielsweise Nettke 2010). Diese
überschneidet sich mit
der Besucherforschung.
1.3
Herausforderungen
Will
man die Wechselbeziehung zwischen ästhetischem Objekt,
RezipientInnengruppe und
Pädagogin bzw. Pädagoge erforschen, begibt man sich
also in ein theoretisch
wenig vorstrukturiertes Feld mit sehr heterogenem Forschungsstand. Eine
klare Orientierung
war weder auf theoretischer noch auf forschungspraktischer Ebene
möglich. Meine
Forschung war in einem Feld zu entwerfen, das bislang theoretisch wenig
vorstrukturiert ist und in dem unterschiedlich geforscht wird.
Zudem
erwies sich der Untersuchungsgegenstand als schwierig zu fassen. Die
fokussierte Situation ist sehr komplex, da Wechselbeziehungen von
SchülerInnen
untereinander, mit der Pädagogin bzw. dem Pädagogen
und mit dem Kunstwerk
bestehen und diese Wechselbeziehungen wiederum in ein bestimmtes
pädagogisches,
institutionelles und situatives Setting eingebettet sowie durch
gesellschaftliche
geprägte Rahmungen beeinflusst sind. Eine gewisse
Abhängigkeit der ‚Variablen‘
Kunst, Pädagoge und Gruppe voneinander (so wird beispielsweise
eine Kita-Gruppe
andere Kunstwerke betrachten als eine Oberstufenklasse, und in der
Regel auch
durch eine andere Pädagogin bzw. einen anderen
Pädagogen geführt werden) musste
berücksichtigt werden. Bei der Untersuchung musste
sprachlichen und
nichtsprachlichen Äußerungen methodisch angemessen
begegnet werden; gerade bei
letzteren musste davon ausgegangen werden, dass sie in
Gruppensituationen
besonders bedeutsam sind. Nicht zuletzt mussten
zeitübergreifende Zusammenhänge
(beispielsweise der Einfluss der Begrüßung auf die
spätere Situation)
rekonstruiert werden. Und schließlich galt es, Unterschiede
und Gemeinsamkeiten
zwischen den verschiedenen Fällen zusammenfassen.
2.
Die sozialwissenschaftliche phänomenologische Analyse als
Forschungsansatz
und ein Beispiel ihrer Anwendung
Für
das Forschungsvorhaben wurde die sozialwissenschaftliche
phänomenologische
Analyse gewählt und in diesem Rahmen
erziehungswissenschaftliche Videografie
und Teilnehmende Beobachtung praktiziert, also im Paradigma der
sozialwissenschaftlichen Ethnographie gearbeitet.
Im Folgenden soll in einem ersten Schritt die sozialwissenschaftliche phänomenologische Analyse als Ansatz mit ihren Prämissen und erkenntnistheoretischen Grundlagen dargelegt werden. Dies erfolgt aus der Perspektive eines Forschenden in der kulturellen Bildung, genauer der Kunstpädagogik, und fokussiert die Sinnhaftigkeit des Ansatzes für Forschung in diesem Feld. In einem zweiten Schritt wird beispielhaft das methodische Vorgehen im Rahmen meines Forschungsprojektes vorgestellt.
2.1
Phänomenologische
Analyse als soziologisches bzw. sozialwissenschaftliches Konzept
Das
sozialwissenschaftliche Verfahren der phänomenologischen
Analyse ist zu
verstehen als Weiterentwicklung der philosophischen
Phänomenologie und
Hermeneutik für die sozialwissenschaftliche Forschung (vgl.
Bortz und Döring
1995: 278). Das Vorgehen besteht im Wesentlichen darin,
subjektive
Bedeutungszuschreibungen der TeilnehmerInnen zu rekonstruieren, um zum
Wesen
des Phänomens vorzudringen. Die phänomenologische
Analyse ist weniger als
formalisierte Methode zu verstehen denn als „metatheoretische
Position der
qualitativen Sozialforschung“ (Lamnek
2005: 48 f.). Für die
Kunstpädagogik wurde der Ansatz unter anderem fruchtbar
gemacht von Maria
Peters und Georg Peez (Peters 1996, Peez 2000, Peez 2007a, Peez 2007b).
Als
soziologisches bzw. sozialwissenschaftliches Konzept wurde die
phänomenologische Analyse in der Tradition von Alfred
Schütz und Max Weber
formuliert, aufbauend auf Edmund Husserl und Maurice Merlau-Ponty.
Während für
Edmund Husserl die Phänomenologie mit dem Ziel einer
Grundlegung aller
Wissenschaften entwickelt wurde, als Brücke
„zwischen idealen Gesetzen und
realem Erleben“ (Waldenfels 1992, S. 14), steht für
Max Weber und anschließend
daran für Alfred Schütz der Nachvollzug subjektiv
gemeinten Sinns sozialer
Handlungen im Fokus. Das Konzept soll im Folgenden genauer umrissen
werden.
2.2
Lebenswelt als Ausgangspunkt
Gemäß
dem Husserl’schen Leitsatz ‚Zurück zu den
Sachen selbst‘ beginnt die
phänomenologische Analyse in der sogenannten
„Lebenswelt“ (Husserl/Ströker 2012
(1936)), dem Alltäglichen, Unverstellten,
Selbstverständlichen des Lebens. Dies
ist als Kritik gegen eine „positivistische Reduktion alles
dessen, was ist, auf
natürliche und historische Tatsachen und mathematische
Formeln“ (Lamnek 2005: 35)
zu verstehen: Mit Methoden, die aus einem wissenschaftlichen Konzept
abgeleitet
werden, so ließe sich Edmund Husserls Haltung umschreiben,
findet man lediglich
künstliche Konstrukte, die mehr mit dem Theorierahmen zu tun
haben als mit dem
Forschungsgegenstand (ebd.). Stattdessen müsse man von der
Lebenswelt ausgehend
Methoden und Denkweisen entwickeln.
2.3
Konstruktivismus,
Leiblichkeit und Intentionalität sozialen Handelns
Doch
die „Sachen selbst, um die es dabei geht, liegen uns nicht
unverdeckt vor
Augen“ (Waldenfels 1992: 17). Aus
konstruktivistischer Sicht muss stets
berücksichtigt werden, dass die Art, wie wir Dinge wahrnehmen,
nicht
deckungsgleich mit den Dingen ist. „Der Gegenstand ist nicht einfach ein und derselbe, er erweist sich als derselbe im Wechsel von
Gegebenheits- und
Intentionsweisen (..., FH), in denen er wahrgenommen, erinnert,
erwartet oder
phantasiert, in denen er beurteilt, behandelt oder erstrebt, in denen
er als
wirklich behauptet, als möglich oder zweifelhaft hingestellt
oder negiert wird“
(Waldenfels 1992: 15, Hervorhebungen im Original). Die
Phänomene der Welt
sind also zu unterscheiden von der Wahrnehmung, die wir von ihnen
haben. Da wir
keinen anderen Zugriff auf die Welt haben als unsere eigene
Wahrnehmung, ist
jeder Zugriff (auch) subjektiv. Mit Maurice Merlau-Ponty spielt die
Leiblichkeit darin eine zentrale Rolle, denn der Leib steht als
„‚dritte
Dimension‘, diesseits von reinem Bewusstsein und reiner
Natur, von Aktivität
und Passivität, von Autonomie und Dependenz, diesseits auch
von reflexivem und
positivem Wissen“ (Waldenfels 1992: 59). Zudem ist
die Intentionalität
menschlichen Handelns zu beachten: Handlungen werden von Menschen unter
bestimmten Absichten vollzogen, und die Handlungen anderer werden als
intentional interpretiert – wobei auch die Interpretation
wiederum als
intentional anzusehen ist. Jegliches Sinngebilde entsteht also durch
Prozesse
des Verstehens und Sinngebens von Subjekten in der sozialen Welt; diese
sind
immer nur momentan, sie verändern sich ständig, und
in zirkulären Prozessen
beeinflusst das Handeln wiederum die Handlung (Hitzler
2010: 112).
2.4
Über
Max Weber zu Alfred Schütz’
Mundanphänomenologie
Der
Philosoph Edmund Husserl hebt den Unterschied von Welt und Bewusstsein
im Sinne
einer Komplementarität auf; „Husserls Lehre von der
Intentionalität
(unterläuft, FH) den neuzeitlichen Dualismus von Innen und
Außen, von
immanentem Erleben und transzendenter Wirklichkeit“
(Waldenfels 1992: 17).
Die Sozialwissenschaftler Max Weber und Alfred Schütz jedoch
müssen „anders als
die (transzendentale) Phänomenologie (…, FH)
notwendig die sinnhafte
Vorkonstituiertheit der sozialen Welt methodologisch in Rechnung
stellen“
(Hitzler 2010: 113). Diese
„‚mundane‘
Intersubjektivität“ (Waldenfels 1992: 79)
als „grundlegende Bildung der Welt durch
Intersubjektivität“ (ebd.) ist
entsprechend Kern der Mundanphänomenologie oder
„angewandten Phänomenologie“
(Lamnek 2005: 49) in den Sozialwissenschaften, die sich sowohl
von der
Transzendentalphänomenologie als auch von der
Existenzialphänomenologie in der
Philosophie abgrenzt. Im Unterschied zu Edmund Husserl ist bei Alfred
Schütz
„die Brücke zur Erfahrung des
Andern
(…, FH) die Selbstauslegung meiner Erfahrung vom
Andern; in diesem Sinne geht das Selbstverstehen dem
Fremdverstehen voraus“ (Waldenfels 1992: 79,
Hervorhebungen im Original).
Der
Soziologe Ronald Hitzler sieht in der sozialwissenschaftlichen
Phänomenologie
nicht nur einen proto- und parasoziologischen Bezugsrahmen:
„Denn insofern es
ihr generell darum geht, gesellschaftliche Konstruktionen der
Wirklichkeit (…,
FH) zu rekonstruieren, ist die Befasstheit mit den Erfahrungen der
Subjekte ein
keineswegs marginales Thema der
Sozialwissenschaften, sondern ihr systematisches Kernproblem: Da
Erleben,
Erfahrungen, Handeln im phänomenologisch strengen Sinne eine
primordiale,
ausschließlich dem erlebenden, erfahrenden, handelnden
Subjekt selber
‚wirklich‘ zugängliche Sphäre
ist, sind sogenannte objektive Faktizitäten auch
nur als subjektive Bewusstseinsgegebenheiten überhaupt
empirisch (evident)
fassbar“ (Hitzler 2010: 134, Hervorhebung im
Original).
2.5
Phänomene als
einzig zugänglicher Niederschlag subjektiv gemeinten Sinns
Phänomene
als beobachtbarer Niederschlag bzw. Spur von subjektiv gemeintem Sinn
sind
letztlich der einzige uns zur Verfügung stehende Weg zum
Nachvollzug sozialen
Handelns. Anhand ihrer Analyse lassen sich Sinnzuschreibungen von
Menschen
rekonstruieren. Der Gültigkeitsanspruch
phänomenologischer Analyse bezieht sich
also nicht auf das Erkennen einer wie auch immer gearteten Wahrheit,
sondern
„weil Wirklichkeit sich nicht aus ‚brute
facts‘ aufbaut, sondern aus
Bedeutungen, geht es in den Sozialwissenschaften vor
allem anderen und sozusagen ‚wesentlich‘ darum, zu
verstehen,
wie Bedeutungen entstehen und fortbestehen, wann und warum sie
‚objektiv‘
genannt werden können, und wie sich Menschen die
gesellschaftlich
‚objektivierten‘ Bedeutungen wiederum deutend
aneignen, daraus ihre je ‚subjektiven‘
Sinnhaftigkeiten herausbrechen – und
dadurch wiederum an der Konstruktion der ‚objektiven
Wirklichkeit‘ mitwirken“
(Hitzler 2010: 135, Hervorhebungen im Original).
2.6
Vorgehen bei der phänomenologischen Analyse
Um
dies zu erreichen, wird nicht die breite Beschreibung von Feldern,
sondern die
„gezielte Analyse einzelner Phänomene“
(Mayring 2002: 108) vorgenommen.
Dabei geht es um eine genaue Deskription als Voraussetzung einer
nachvollziehbaren Interpretation eines Phänomens, um letztlich
zu dessen
Wesenskern vorzudringen. Das Vorgehen bei der
phänomenologischen Analyse stellt
Philipp Mayring schematisch folgendermaßen dar:
Abb. 1:
Vorgehen bei der phänomenologischen
Analyse (Mayring 2002: 110)
Zuerst
erfolgt die „Fokussierung
des zu untersuchenden Phänomens durch eine
oder mehrere Forschungsfragen“ (Peez 2007a: 29),
dann eine entsprechende
Materialsammlung und „Exemplarische Deskription“
(ebd.): Gesammelt wird das,
was dazu geeignet ist, dem Wesen des Phänomens auf die Spur zu
kommen. Dies
können beispielsweise Protokolle teilnehmender Beobachtung,
Foto- oder
Videoaufnahmen oder materielle Zeugnisse bildnerischen Handelns wie
Zeichnungen
oder Skulpturen sein. Dieses Material wird deskribiert, also in
Textform
gebracht.
Nach
der Deskription und der Auswahl von Materialstellen aufgrund der
Forschungsfragen folgen Analyse und Erklärung (Lippitz 1987,
Lamnek 1995: 56,
Mayring 2002: 108 f.). Bei der Analyse wird ein
erster
Materialdurchgang vorgenommen, „um den generellen Sinn des
Ganzen
aufzuschließen“ (Mayring 2002: 108). In
einem zweiten Analyseschritt
werden aus dem Material Bedeutungseinheiten gebildet. Danach geht es
darum, die
Bedeutungseinheiten „auf das Phänomen hin zu
interpretieren“ (Mayring 2002: 109);
dies erfolgt unter hermeneutischen Prämissen (Rumpf
1991: 327 f.;
Rittelmeyer et al. 2001, Wernet 2006). Der Kunstpädagoge Georg
Peez weist
darauf hin, dass sich Interpretierende im Verlauf der Interpretation
„auch über
die subjektive Konstitution der Phänomene im Bewusstsein der
materialerhebenden
sowie interpretierenden Person (Vorverständnisse, Vorurteile,
Erwartungen)
gewahr werden“ sollten (Peez 2007a: 29).
Schließlich
werden die interpretierten Bedeutungseinheiten verglichen,
verknüpft,
verbunden, und es wird per Variation und Reduktion auf den Kern eine
„generelle
Phänomeninterpretation“ (ebd.) vorgenommen:
„Das Ziel der Analyse ist aber, zum
tiefsten Kern, zum Wesen der Dinge vorzustoßen“
(Mayring 2002: 107 f.).
Dabei sollen alle Elemente, die den Blick auf das Wesentliche
verstellen, im
Sinne einer Zusammenfassung des Wesentlichen ausgesondert werden. Der
Soziologe
Siegfried Lamnek spricht von einer „Wesenserfassung (..., FH)
in Analogie zur
eidetischen Reduktion im Sinne Husserls, indem man den untersuchten
Gegenstand
von möglichst vielen Seiten her zu betrachten und zu
beschreiben versucht, um
so das Wesenhafte eines Gegenstandes
herauszuschälen“ (Lamnek 2005: 57).
Abschließend werden die Forschungsergebnisse zusammenfassend
dargestellt.
2.7
Ziel
und Ergebnis: Rekonstruktionen als intersubjektiv nachvollziehbare
Auslegungen
Die
„subjektive Perspektive des einzelnen Akteurs als letzter Bezugspunkt für
sozialwissenschaftliche Analysen“ (Hitzler
2010: 134, Hervorhebung im Original) ist der Grund, warum das Ziel
bzw. Ergebnis phänomenologischer Analyse
die Rekonstruktion
(nicht das Verstehen oder Erklären)
subjektiv gemeinten Sinns ist. Sie erzeugt sozialwissenschaftliche
Sichtweisen
als Konstruktionen über alltagsweltliche Konstruktionen der
Subjekte, also
letztlich Konstruktionen zweiter Ordnung. Eine vollständige
Adäquanz zwischen
dem Forscher-Konstrukt des subjektiv gemeinten Sinns und dem
Akteurs-Konstrukt
seines subjektiv gemeinten Sinns ist dabei „unerreichbares
Ideal“ (Hitzler 2011: 114).
Das Festhalten an der subjektiven Perspektive bietet nach Alfred
Schütz „die
einzige, freilich auch hinreichende Garantie dafür, dass die
soziale
Wirklichkeit nicht durch eine fiktive, nicht existierende Welt ersetzt
wird,
die irgendein wissenschaftlicher Beobachter konstruiert hat“
(Schütz et al.
1977: 65 f.). Die Grundlegung der
phänomenologischen Analyse im
subjektiv gemeinten Sinn, der als Spur in Phänomenen der
Lebenswelt zugänglich
wird, führt insofern nicht zu ‚objektiven‘
Erkenntnissen, sondern zu
intersubjektiv überzeugenden Auslegungen (Peez
2007a: 29). Forschung in
diesem Sinne hat sich daran zu messen, ob ihre Sichtweisen
überzeugen können:
„Die exemplarische Deskription ist ein Deutungsakt, der sich
kommunikativ und
intersubjektiv überprüfbar zu bewähren
hat“ (Peez 2000: 162). So werden
die AdressatInnen, die LeserInnen von Forschungsarbeiten „zu
Mitdenkenden und
Mitforschenden“ (Peez 2000: 161).
„Phänomenologische Aussagen erfüllen
nicht die Forderung der Allgemeinheit im positivistischen Sinne, da sie
spezifische Implikationen enthalten, doch kann ein hoher
Verbindlichkeitsgrad
im Gespräch mit wirklichen oder gedachten Anderen erreicht
werden“ (Lamnek 2005: 57).
Dabei
kann es durchaus Sinn machen, „die Mehrdeutigkeit einer
Situation
herauszuarbeiten und die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungen soweit
einsichtig zu machen, dass sinnvolles (pädagogisches) Handeln
möglich wird“
(Rauschenberger 1988: 279). Georg Peez spricht davon, dass es
gerade durch
die Variation ähnlicher Situationen, die aber
möglicherweise unterschiedliche
Deutungen hervorbringen, oder durch den Umgang mit
widersprüchlichen Positionen
möglich wird, „zum Wesenskern der
Untersuchungsgegenstände vorzudringen“ (Peez
2000: 163). Dies ist auch als „Absage an lineare
Zuschreibungen“ (ebd.) zu
verstehen und als „Anerkennung der
Kontingenzaspekte“ (ebd.).
2.8
Konkretes Vorgehen in der Studie „Kunst-Pädagogik,
Kunst-Aneignung,
Kunst-Vermittlung. Fallspezifische empirische Untersuchungen zu zwei
Schulklassen
und einer Kita-Gruppe in Kunstausstellungen“ (4)
Es
wurden fallspezifische Untersuchungen vorgenommen; drei Situationen mit
jeweils
unterschiedlichen Kunstwerken, Gruppen, PädagogInnen und
Ausstellungskontexten
wurden untersucht. Hierfür wurde die Erhebung jeweils mit
Erziehungswissenschaftlicher Videografie und Teilnehmender Beobachtung
im
Paradigma der sozialwissenschaftlichen Ethnographie vorgenommen.
Abschließend
wurden im Rahmen der sozialwissenschaftlichen
phänomenologischen Analyse fallübergreifend
Strukturmerkmale der Wechselbeziehung zwischen ästhetischem
Objekt, RezipientInnengruppe
und Pädagogin bzw. Pädagoge rekonstruiert.
Fallbestimmung
Der
Fall (oder präziser: die Beschreibung und Interpretation eines
Falles) muss
möglichst nützlich sein, muss anschlussfähig
und innovativ zwischen Allgemeinem
und Speziellem vermitteln (Fatke 1997, Lamnek 2005, Peez 2007a). Daher
wurde als Fall eine
Situation bestimmt, die sich als eine Kernsituation der
Kunstpädagogik
beschreiben lässt: Ein angeleitetes Bildgespräch
einer Gruppe. Dabei findet
Kunstrezeption prozesshaft statt, mit anderen Menschen, vor dem
originalen
Kunstwerk, nicht ausschließlich sprachlich (auch
z. B. bildlich und
performativ) und durch eine Pädagogin bzw. einen
Pädagogen angeleitet. Die
TeilnehmerInnen befinden sich dabei alle in einem Raum, in Sichtweite.
Ferner
bestehen Kommunikationsmöglichkeiten sowohl untereinander als
auch mit der
Pädagogin bzw. dem Pädagogen. Vorgefunden wird all
dies bei einer
Bildbesprechung im Rahmen eines geführten Rundgangs
(Führung) einer Schulklasse
oder Kita-Gruppe im Museum. Im Rahmen dieser Untersuchung bildet solch
eine
Situation den Fall.
Die
Erhebungen wurden jeweils durch zwei Personen durchgeführt,
als Teilnehmende
Beobachtung durch mich selbst, parallel dazu als Videobeobachtung durch
Katja
Schöwel bzw. Katharina Weick-Joch.
Für
die Teilnehmende Beobachtung wurde vorab ein Beobachtungsleitfaden
verfasst.
Schwerpunkt sollte die Beobachtung von Interaktionen sein, die
TeilnehmerInnensicht
und jene Aspekte, die von der Kamera nicht eingefangen werden
können. Die
Teilnehmende Beobachtung wurde jeweils begonnen, als ich im Museum
eintraf und endet
jeweils mit der Verabschiedung der Pädagogin bzw. des
Pädagogen von der Gruppe.
Die Beobachtungen wurden schriftlich sowie in Skizzen der
räumlichen Situation
festgehalten. Unmittelbar darauf wurde von mir ein
Beobachtungsprotokoll
verfasst.
Für
die Videobeobachtung konnte, da sich die Gruppe im Verlauf der
Führung durch
die Ausstellung bewegt, keine fest installierte Kamera eingesetzt
werden. Auch
war zu erwarten, dass die Interaktion nur angemessen beobachtet werden
kann,
wenn mit einer interaktionsgeleiteten Kameraführung gearbeitet
wird. Diese
fokussiert je nach Situation einzelne Personen, die gesamte Gruppe, das
Kunstwerk usw. Aufgezeichnet wurde mit einer Handkamera Canon Legria HF
R16E.
Zusätzlich wurde ein Diktiergerät Sharp PA-VR10E
verwendet, das an meinem Schreibbrett
befestigt war und somit Gespräche von einer zweiten Position
im Raum
aufzeichnen konnte. Auf ein Datenerhebungsprotokoll konnte verzichtet
werden,
da die dort zu verzeichnenden Aspekte bereits durch die Teilnehmende
Beobachtung dokumentiert wurden.
Die
Feldnotizen der Teilnehmenden Beobachtung wurden in ein
Beobachtungsprotokoll
überführt. Das Protokoll ist narrativ verfasst und
beschreibt aus der
Ich-Perspektive die Führung vom Zeitpunkt des Eintreffens des
Beobachters/Forschers im Museum bis zu dem Moment, als die
SchülerInnen die
Situation verlassen.
Die
Dateien der Videobeobachtung wurden mittels der
Videobearbeitungssoftware
Pinnacle Studio 14 zusammengefügt, so dass die Aufnahme der
gesamten Führung in
einer Datei vorlag. Anschließend wurde sie in einzelne
Segmente zerlegt, die
jeweils ein Bildgespräch umfassen. In einer
Übersichtstabelle wurden alle
Segmente aufgeführt, mit einem Video-Still kombiniert und mit
Notizen zu
wesentlichen Ereignisse während der Führung versehen.
Audiodaten wurden sowohl per Videokamera als auch per Diktiergerät aufgezeichnet. Daraus wurden Audioprotokolle der ausgewählten Bildgespräche erstellt (zur Begründung der Auswahl s. u.). Die Transkriptionen erfolgten mit Hilfe der Software f4 und angelehnt an die Regeln des Gesprächsanalytischen Transkriptionsprotokolls in der Form Basistranskript (Selting 1998). Anschließend wurden die ausgewählten Bildgespräche deskribiert; im Mittelpunkt stand dabei entsprechend der Forschungsfrage die Wechselbeziehung zwischen ästhetischem Objekt, RezipientInnengruppe und Pädagogin bzw. Pädagoge. Für die Deskription wurde auch auf die Audio-Transkriptionen zurückgegriffen.
Auswertung
Die
Auswertung erfolgte im Rahmen der sozialwissenschaftlichen
phänomenologischen
Analyse. Die Phänomendefinition bzw. Fallkonstruktion wurde
bereits im
Abschnitt „Fallbestimmung“ dargestellt.
Anschließend fand eine Materialsammlung
bzw. Fallbeobachtung statt, wie sie in Abschnitt 2.6 beschrieben wurde,
sowie
eine exemplarische Deskription bzw. Falldarstellung.
Bei der Auswertung bzw. Fallanalyse wurde zuerst in einer Gesamtschau das Video-Material jeweils einer ganzen Führung gesichtet und Auffälliges notiert. Die Videoaufzeichnungen der Schulklassen umfassten jeweils eine Führung mit 9 Bildgesprächen, diejenige der Kita-Gruppe eine Führung mit 6 Bildgesprächen.
Abb.
2: Übersicht der für die Auswertung
ausgewählten Daten am Beispiel
des Falles „Kita“
Danach
wurde eine Materialauswahl getroffen, also die Videoaufzeichnung eines
Bildgesprächs
pro Gruppe ausgewählt. Dabei wurde jeweils ein
Bildgespräch ausgewählt, das als
exemplarisch für die gesamte Führung dieser
Schulklasse bzw. Kita-Gruppe gelten
kann. Die Begründung für die Auswahl wurde
fallbezogen dargelegt. In einem
ersten Materialdurchgang (s. Abschnitt 2.6) durch das
ausgewählte Bildgespräch
wurde versucht, das Wesen der Situation zu erfassen. Später
wurde ergänzend
dieser Schritt für andere Bildgespräche wiederholt,
um die Materialauswahl
gegebenenfalls zu revidieren oder weitere Bildgespräche
hinzuzunehmen.
Je
Fall wurde dann das als exemplarisch ausgewählte
Bildgespräch sequenzanalytisch
ausgewertet, um Zusammenhänge nachvollziehen zu
können. Die Auswertung erfolgte
auf Grundlage der Deskription und gegebenenfalls unter Hinzunahme der
Audiotranskription oder des Videomaterials. Es wurde zuerst eine
Diskrimination
von Bedeutungseinheiten innerhalb der einzelnen Sequenzen vorgenommen,
anschließend eine Interpretation der Bedeutungseinheiten
für die
Gesamtsituation.
In
einem nächsten Schritt wurde für jede der drei
Gruppen eine Triangulation mit
den Daten der Teilnehmenden Beobachtung für die gesamte
Führung vollzogen. Dazu
wurde nach einer Reflexion der subjektiven Beobachtungsanteile
geprüft, ob die
aus der Videobeobachtung herausgearbeiteten Bedeutungseinheiten
bestätigt,
verändert oder ergänzt werden können. Am
Ende standen für jeden der drei Fälle,
für die je ein Bildgespräch analysiert wurde, jeweils
etwa zehn interpretierte
Bedeutungseinheiten.
Danach
wurde eine synthetisierende Interpretation (in der
phänomenologischen
Terminologie: eidetische Reduktion, s. Abschnitt 2.6) vorgenommen. Die
interpretierten Bedeutungseinheiten aller drei Fälle wurden
zusammengefasst mit
dem Ziel, das Wesen der Situation und seine Strukturmerkmale
darzustellen; dazu
wurden zehn fallübergreifende Kategorien erarbeitet. Durch
Variation und
Reduktion auf den Kern entstand somit eine generelle
Phänomeninterpretation,
eine Zusammenfassung des Wesentlichen bzw. eine
Strukturgeneralisierung. Die
Merkmale der Einzelfälle wurden zu einer Gesamtaussage
synthetisiert.
2.9
Leistungen der Methode
Mit
dem gewählten Vorgehen konnten die beobachteten Situationen
umfassend und
methodengeleitet untersucht werden und fallübergreifende
Strukturen erarbeitet
werden. Somit konnten wesentliche Merkmale der Wechselbeziehung
zwischen
ästhetischem Objekt, RezipientInnengruppe und
Pädagogin bzw. Pädagoge
rekonstruiert werden. Im Zusammenhang mit dem erhobenen Forschungsstand
und den
diskutierten Theoriekonzepten (insb. Kade 1997, Hausendorf 2010,
Grütjen 2013)
wurde ein heuristisches, deskriptives Modell der
„Pädagogischen
Kunstkommunikation“ (4) erarbeitet. Die Auswertungen ergaben
also ein Modell,
eine Typik oder Exemplarik dieser Situation, eine Allgemeinheit trotz
aller
Besonderheiten. Nun besteht die Möglichkeit, auf Basis dieses
Modells die
Situation anders zu sehen und praktisch anders zu handeln; die
pädagogische
Reflexivität wird damit angeregt, solche Situationen
‚anders‘ wahrzunehmen, um
professionell angemessener zu agieren (Peez 2000: 161).
Ergebnis: Ein heuristisches, deskriptives Strukturmodell „Pädagogische Kunstkommunikation“
Die
Wechselbeziehung zwischen RezipientInnengruppe, ästhetischem
Objekt und Pädagogin
bzw. Pädagoge in einem bestimmten Ausstellungskontext
lässt sich dadurch
charakterisieren, dass einerseits TeilnehmerInnen eine Aneignung
vollziehen,
die stark von ästhetischen Erfahrungen geprägt ist,
und andererseits eine
Vermittlung stattfindet, die im Wesentlichen aus Wissensvermittlung und
der
Schaffung sowie Aufrechterhaltung pädagogischer Kommunikation
(Kade 1997)
besteht. Vermittlung und Aneignung stehen in Differenz; dabei besteht
ein enger
Zusammenhang zwischen originalem Kunstwerk, Körper und
Aneignung sowie zwischen
Institution, Macht und Vermittlung. Diese Differenz ist unvermeidlich
und
unauflöslich. Eine Deckung von Vermittlung und Aneignung kann
demnach nicht
erwartet werden. Vermittlung wird damit jedoch nicht unmöglich
– sie ist
zwingend notwendig als eine Seite einer Medaille, deren andere Seite
die
Aneignung ist. Ohne Vermittlung könnte eine
Pädagogische Kunstkommunikation
nicht stattfinden.
Die
Kunst- und Museumspädagogik müsste also
künftig weniger auf die Auflösung der Differenz
hinarbeiten (im Sinne ‚gelingender‘ Methoden),
sondern auf einen sinnvollen
Umgang mit der Differenz der Vermittlung zur Aneignung.
Pädagogische
Kunstkommunikation praktizieren hieße demnach: Vermitteln,
was vermittelbar ist
und soweit es vermittelbar ist; Aneignung anstoßen und
ermöglichen – und auf
einer weiteren Ebene das Zusammenspiel von Vermittlung und Aneignung
sozial,
performativ und im Raum zu koordinieren
Konkrete
Erfahrungen mit der sozialwissenschaftlichen
phänomenologischen Analyse
-
Das gewählte Vorgehen
ermöglichte es, der Komplexität des
Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden.
Durch die ausführliche Beschreibung und Analyse konnte die
komplexe und
vielschichtige Situation eines Bildgespräches angemessen
betrachtet werden.
Dazu gehört die Wechselbeziehung von SchülerInnen
untereinander, mit der
Pädagogin bzw. dem Pädagogen und mit dem Kunstwerk
sowie der Einbettung dieser Wechselbeziehungen
in ein bestimmtes pädagogisches und institutionelles Setting
und
gesellschaftliche geprägte Rahmungen. Mit dem
‚holistischen‘ Blick auf ein
gesamtes Phänomen konnten so verschiedene Elemente wie
beispielsweise Einflüsse
des Raumes auf die Gruppe, Handlungen einzelner SchülerInnen,
Einwirkungen von
außen (durch andere MuseumsbesucherInnen) oder Impulse der
Pädagogin bzw. des
Pädagogen sinnvoll in Verbindung gesetzt werden. Damit war
eine umfassende
Analyse der Situation möglich.
-
Sehr hilfreich war, dass sprachliche
und nichtsprachliche Äußerungen integriert werden
konnten. In zahlreichen
Situationen kam den Gesten, den Körperhaltungen oder der Mimik
enorme Bedeutung
zu; in einigen Situationen mussten Wortbeiträge angesichts der
Körperhaltung ganz
anders interpretiert werden – mit einem rein sprachlich
orientierten Verfahren
wäre dies nicht möglich gewesen.
-
Die einzelnen Aspekte
werden nicht isoliert betrachtet, sondern können in ihren
Zusammenhängen
analysiert werden. Somit konnte das Zusammenspiel von Institution,
Verhalten,
Interaktion, Pädagogik usw. untersucht werden und die
‚Lebenswelt Bildgespräch‘
mit ihren Einflüssen und Verläufen rekonstruiert
werden.
-
Als nicht-sequenzielles
Verfahren erlaubt es die sozialwissenschaftliche
phänomenologische Analyse, auch
zeitübergreifende Zusammenhänge innerhalb der
Situation zu berücksichtigen,
beispielsweise den Einfluss der Begrüßung auf die
spätere Situation.
-
Weil bei der
phänomenologischen Analyse codierend vorgegangen wird, gelingt
es nach der
Fokussierung auf die konkrete Situation, Unterschiede und
Gemeinsamkeiten
zwischen den verschiedenen Fällen zusammenfassen. Am Ende
steht also
tatsächlich ein ‚Ergebnis‘, die
Rekonstruktion des Wesenskerns des Phänomens. Weil
die phänomenologische Analyse in der Lebenswelt ansetzt und
allgemeine
Zusammenhänge herausarbeitet, können wesentliche
„Strukturen, die zwar Wirkung
tun, bisher aber nicht wissenschaftlich oder lebensweltlich explizit
bewusst wurden“
(Peez 2000: 161) rekonstruiert werden.
Diese
Stärke markiert jedoch
auch die Grenzen der phänomenologischen Analyse: Die
Rekonstruktion von
Strukturen bedeutet, sozusagen den status quo eines Phänomens
darzustellen. Es
ist beispielsweise mit diesem Verfahren nicht möglich, das
Phänomen zu
bewerten. Ein Vergleich mit anderen Phänomenen oder eine
Bewertung anhand
gegebener Maßstäbe ist in diesem Ansatz nicht
vorgesehen. Auch lassen sich mit
der phänomenologischen Analyse keine Handlungsanleitungen
generieren. Weil nur
Rekonstruktionen von Vorhandenem erarbeitet werden können, ist
das Verfahren sozusagen
retrospektiv, nicht prospektiv – wie die meisten empirischen
Verfahren. Die
phänomenologische Analyse geht dennoch über die
beobachtete Situation hinaus. Durch
die präzise Rekonstruktion eines Phänomens kann es
gelingen, die
„Erziehungswirklichkeit als eine sinnhaft strukturierte,
kulturell geformte
Realität in ihrer Sinnhaftigkeit und normativen Struktur zu
verstehen“
(Friebertshäuser und Prengel 1997: 20). So ist es
möglich, dass Modelle
und Sichtweisen generiert werden, mit denen (pädagogisch)
Handelnde künftig
pragmatischer mit ähnlichen Situationen umgehen
können (vgl. Peez 2000: 325 f.).
Die phänomenologische Analyse bietet also die
Möglichkeit, ein Phänomen besser
zu verstehen, seine Strukturen und Zusammenhänge
nachzuvollziehen und deswegen
künftiges Handeln zu verändern.
Wie
bei jedem interpretierenden
Verfahren besteht auch bei der sozialwissenschaftlichen
phänomenologischen
Analyse immer die Gefahr, einzelnen, stets auch subjektiven Deutungen
zu hohes
Gewicht beizumessen. Daher ist hier umso mehr eine gewissenhafte
Reflexion
subjektiver Beobachtungsanteile geboten sowie eine
Multiperspektivität methodisch
vorzusehen, beispielsweise durch Triangulation (Mayring 2002, Lamnek
2005,
Flick 2010, Flick 2011). Diese kann zum Beispiel durch
„Data-Triangulation“
(Denzin 1970, Denzin 1978) verbaler und visueller Daten oder
„Investigator-Triangulation“
(ebd.) in Auswertungsgruppen und Forschungswerkstätten
stattfinden, aber auch als
„systematische Perspektiven-Triangulation“ (Flick
2010: 161, Flick 2011: 20
f.), bei der verschiedene Forschungsansätze mit den ihnen
angeschlossenen
Methoden und Daten trianguliert werden.
Aus
persönlicher Sicht
empfand ich das ausführliche, zuerst sorgfältig
beschreibende, dann präzise
interpretierende Vorgehen sehr praktikabel, wenn auch
aufwändig. Insbesondere
die Deskription der Videosequenzen verlangte mir viel ab, denn es galt
ja,
vielfältige Eindrücke aus der Videoaufnahme
niederzuschreiben (Handlungen,
Atmosphären, Aussagen, Raumstrukturen,
Bewegungen…). Schwierig war es dabei, gleichzeitig
stattfindende Handlungen in einer sinnvollen Satzstruktur darzustellen.
Bei der
Interpretation lag die Herausforderung ebenso darin, den Blick auf
vieles
gleichzeitig zu lenken – und dennoch das Wesentliche
herauszuarbeiten. Wer
phänomenologisch arbeiten möchte, steht also vor der
Aufgabe, selbst eine Struktur
ins Material zu bringen (oder präziser: die Struktur aus dem
Material
herauszuarbeiten), insbesondere bei der Formulierung von
Strukturmerkmalen und
deren Zusammenführung zu einer Gesamtaussage.
3.
Fazit
Mit
der
sozialwissenschaftlichen phänomenologischen Analyse konnten in
meinem
Forschungsprojekt die verschiedenen Fälle in ihrer
Komplexität tiefenscharf
ausgewertet werden; sprachliche und nicht-sprachliche Interaktionen
wurden
dabei ebenso berücksichtigt wie verschiedene
äußere Einflussfaktoren. Auch war
es möglich, fallübergreifend Strukturmerkmale zu
erarbeiten. Damit ist es aus
meiner Sicht gelungen, eine Kernsituation der Kunstpädagogik
und
Museumspädagogik in ihren strukturellen
Zusammenhängen nachzuvollziehen und
darzustellen, so dass künftig darauf theoretisch, empirisch
und praktisch
aufgebaut werden kann.
Das
Vorgehen habe ich als
praktikabel erlebt, weil wenig ‚Technik‘
nötig ist – also keine spezielle
Software und keine aufwändig zu erlernende Methodik. Die
sozialwissenschaftliche
phänomenologische Analyse als ein beschreibend-interpretatives
Verfahren kann
leicht erlernt bzw. eingeübt werden. Entscheidend ist
vielmehr, sie als „metatheoretische
Position“ (Lamnek 2005: 48 f.) zu verstehen
und eine entsprechende Forschungshaltung
einzunehmen. Zudem verlangt sie ein präzises Vorgehen, einen
hohen Grad an
Selbstreflexion und Transparenz sowie die Fähigkeit,
Strukturen zu erkennen und
zu entwickeln.
Für
die Kulturelle Bildung ist
der Forschungsansatz aus meiner Sicht geeignet, weil diese ein
höchst komplexes
Feld ist, das bislang theoretisch wenig vorstrukturiert ist. Daher
empfiehlt
sich die sozialwissenschaftliche phänomenologische Analyse als
ein
Forschungsvorgehen, das in der „Lebenswelt“
(Husserl) ansetzt, ein Phänomen
umfassend in den Blick nimmt und allgemeine Zusammenhänge
herausarbeitet, die
weitergehend in Forschung und Praxis genutzt werden können.
4.
Anmerkungen
(1) Die
Dissertation über Führungen in Kunstmuseen wird
betreut von Prof. Dr. Georg
Peez, Institut für Kunstpädagogik,
Goethe-Universität Frankfurt am Main.
(2) In
der Kunstpädagogik wird statt vom Kunstwerk eher vom
„ästhetischen Objekt“
(Otto 1969) gesprochen. Damit werden wertneutral alle bildnerischen
Produkte
gefasst: „Ästhetische Objekte können von
Kindern, Schülern, Künstlern oder
Laien stammen, können fertig oder unfertig, können
gebaut, geformt, montiert,
gemalt oder sonst wie realisiert sein“ (Otto 1969, S. 190).
(3) Tobias
Nettke meint gar, es handelt sich „bei
Museumspädagogik weder um eine methodische
Richtung, noch um eine genau umrissene Fachdisziplin“ (Nettke
2013,
S. 419).
(4) So
der Titel der Dissertation, die 2014 vom Fachbereich Sprach- und
Kulturwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main
angenommen wurde.
Die Arbeit wurde mit dem Arnold-Vogt-Preis für
Museumspädagogik ausgezeichnet. Die
Veröffentlichung folgt voraussichtlich im Frühjahr
2015.
5.
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