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Vom Objekt zum Projekt. Kunstpädagogische Arbeit vom Original aus gedacht

Untersuchungen an einem Projekt[1] zum Surrealismus

Wenn es bei einer »künstlerischen Kunstpädagogik« darum geht, Methoden von der Kunst aus zu entwickeln (Buschkühle 2007a), so ist es sinnvoll, einen Blick auf die Erfahrungen im Kunstmuseum zu werfen, denn dort ist das Denken „von Kunst aus“ zentral und die pädagogischen Wirkungen werden vom Objekt ausgehend organisiert. Der Anspruch dabei ist ein kunstdidaktischer, wenn nicht gar kunstpädagogischer: Bereits bei Alfred Lichtwark ging es im Museum nicht nur um Wissenserwerb, sondern um eine Ausbildung der Fähigkeit, Kunstwerke anzuschauen, und den Transfer dieser Fähigkeit auf andere Felder (Lichtwark 1887). Heute zielt das Museum darauf ab, das Publikum zum »active audience« (Hooper-Greenhill 2007, S. 19) zu qualifizieren, das Bedeutungen im Dialog selbst konstruiert (Hooper-Greenhill 2007). Lernen im Museum zu ermöglichen wird zu einer selbstverständlichen Kernaufgabe des Museums. Und nimmt man den »educational turn« (Rogoff 2008) ernst, so werden auch die kuratorische und selbst die künstlerische Tätigkeit „pädagogisch“. Aus den Erfahrungen im Museum müssten also nützliche Erkenntnisse für den Diskurs um künstlerische Kunstpädagogik zu ziehen sein.

Forschungsbedarf: Empirische Erfahrungen aus der Arbeit vor dem Original

Doch wenn man Erfahrungen aus der Museumspädagogik nutzen will, stellt man fest: Zwar gibt es eine ganze Reihe von Postulaten und »ebensoviele museumspädagogische Arbeitsformen... wie es pädagogische Museumsabteilungen gibt« (Noschka-Roos 1994, S. 17), jedoch keine systematischen Untersuchungen musealer Praxis, kaum formale Evaluation und keine nennenswerte Forschung zu museumspädagogischen Programmen (Reussner 2010). Es besteht also Handlungsbedarf: »Grundlagenkenntnisse« müssen bereitgestellt und empirische Fundamente geschaffen werden (Klein und Bachmayer 1981), »um das Museum nicht nur als ‚Lern- oder Erlebnisort‘ zu proklamieren, sondern es als solchen organisieren zu können.« (Noschka-Roos 1994, S. 219) – und um diese Erfahrungen darüber hinaus für die Kunstpädagogik nutzbar zu machen. Dabei ist heute weitgehend Konsens, dass qualitative Ansätze in der Forschung der kunstpädagogischen Praxis am besten gerecht werden und sinnvolle Methoden bereitstellen (Peez 2000). 

Eigener Ansatz: Fragestellung, Methodik und Ergebnisse

Als Kunstpädagoge, der sowohl praktisch im Museum tätig ist als auch wissenschaftlich, möchte ich in meinem Beitrag die eigene kunstpädagogische Praxis systematisch reflektieren und damit eine Art „Angewandte Kunstpädagogik“ betreiben. Dies erfolgt empirisch, also mittels Aufbereitung und Auswertung von erhobenem Forschungsmaterial zu einem Phänomen entlang einer Forschungsfrage (Peez 2007).

Um der Frage „Was bedeutet es, ein Projekt von der Kunst ausgehend zu konzipieren?“ nachzugehen, wird eine Schülerarbeit aus einem Projekt analysiert. Insbesondere sollten Auffälligkeiten im Arbeitsprozess identifiziert werden, die mit der dem Projekt zugrundeliegenden Kunst zu tun haben. Anschließend wird die Projektstruktur daraufhin untersucht, wo sich Elemente des Künstlerischen finden. Schließlich ist zu prüfen, ob die Auffälligkeiten im Arbeitsprozess durch die Projektstruktur bedingt waren, mithin also eine von Kunst ausgehende Projektkonzeption auch besondere Folgen in Arbeitsprozess und -ergebnis zeigt.

Das Beispiel entstammt dem Projekt Schirn macht Schule: Surreale Dinge im MyZeil von Schirn Kunsthalle Frankfurt und Justus-Liebig-Universität Gießen, in dem jene museumspädagogische Vorgehensweise, von Kunst ausgehend pädagogische Wirkungen zu organisieren, in einem Projekt mit 15 Schulen angewandt wurde. Der Text soll jedoch keine Präsentation oder Evaluation des Projekts leisten[2]; vielmehr soll versucht werden, durch einen systematischen fallspezifischen Blick auf ein Projekt, Erkenntnisse im Bezug auf die Herangehensweise herauszudestillieren und für den Fachdiskurs fruchtbar zu machen.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden zeigen, dass die Schülerarbeit auffällig schrittweise entstand und in der Arbeitsweise wesentliche Elemente des Surrealismus aufweist. Weiterhin wird deutlich werden, dass die Projektstruktur verschiedene, aus der Kunst des Surrealismus hergeleitete Impulse einsetzte. So wird man schließen können, dass eine von Kunst ausgehende kunstpädagogische Konzeption wichtige künstlerische Impulse im Projekt ermöglicht, die Schüler in ihrer bildnerischen Arbeit außergewöhnlich stark fördern.

Im Museum. Lernen am Phänomen

Die besonderen Bedingungen des Lernorts Museum finden sich knapp und anschaulich formuliert in einem Text von Gunter Otto (Otto 2007): Er verweist darin auf den Wert des Originals und die sinnliche Erfahrung; er spricht davon, dass das Museum als Angebot konzipiert und kontingent erfahrbar ist, da man im Museum unterschiedlich lange verweilen, wiederkehren und die bereits gemachten Erfahrungen vertiefen oder auf andere Felder ausdehnen kann, kurz: dass man diskontinuierlich lernen kann.

Neben diesen eher räumlich-organisatorischen Wesensmerkmalen erläutert er noch einen entscheidenden inhaltlichen Unterschied. Das Museum, so Otto, ist ein Ort der entschiedenen Fokussierung. Nicht das Allgemeine und Theoretische steht im Vordergrund, sondern das Spezielle, oft Fremde – aber ganz Konkrete, das man nicht wegdiskutieren und relativieren kann: Es ist da. Diese Fokussierung unterscheidet den Lernort Museum deutlich von der Schule, die stets vom Allgemeinen ausgeht und die großen Zusammenhänge in den Vordergrund stellt[3].

Für die Bildung bedeutet dies nach seiner Ansicht, dass im Museum ein Lernen am Fall bzw. Phänomen stattfindet. Die Besonderheiten eines Objektes sind der Ausgangspunkt; sie werden untersucht und daraus wird ein Bild des Ganzen und des Zusammenhangs entwickelt[4]. Auf diese Weise lässt sich zum Beispiel aus der detaillierten Anschauung, Beschreibung und Besprechung eines Gemäldes der historische Wandel der Gesellschaftsordnung nachvollziehen, dazu die Gesetzmäßigkeiten verschiedener Farbtheorien, individuelle Umgangsweisen mit der Unausweichlichkeit des Todes und vieles mehr.[5]

(Kunst-)Pädagogen am Museum haben für diesen Lernort besondere Methoden und Vorgehensweisen entwickelt (vgl. Barbe-Gall 2005, Bertscheit  2001, Cremer 1996, Fast 1995, Lichtwark 1898, Schmeer-Sturm 1990), die seinen Besonderheiten Rechnung tragen und seine Potentiale nutzen. Dazu gehört die klassische moderierte Führung (die im besten Fall im Dialog mit den Besuchern und anschaulich am Original nicht nur Kenntnisse vermittelt, sondern ästhetische Erfahrungen ermöglicht), die Umsetzung[6] von Bilderfahrungen in eigener künstlerisch-praktischer Tätigkeit, aber auch Angebote, die ein forschendes Erkunden in den Mittelpunkt stellen, oder solche, die auf theaterpädagogischen Konzepten aufbauend körperliche und leibsinnliche Erfahrungen ermöglichen.

Es stellt sich nun die Frage, wie solche Ansätze in Projekten genutzt werden können. Kann eine „Pädagogik vom (Kunst-)Objekt aus“ auch in einem Projekt funktionieren? Wie würde solch ein Unterfangen aussehen und was würde es bewirken?

Ein Projekt. Vom (Kunst-)Objekt ausgehend arbeiten

Im Projekt „Schirn macht Schule: Surreale Dinge im MyZeil“ wurde versucht, solche Ansätze in ein Projekt mit Schulen zu übertragen. Dabei wurde originale Kunst als Ausgangspunkt genutzt, nämlich die Ausstellung „Surreale Dinge. Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (Abb. 1). Sie präsentierte Werke aus Alltagsgegenständen, die kombiniert, verfremdet, belebt, transformiert oder ihrer Funktion beraubt wurden. Für die Künstlerinnen und Künstler war die Wirkung ihrer Werke auf den Betrachter wichtig: Sie sollten schockieren und amüsieren, überraschen und verführen. Ihr Material fanden sie auf Flohmärkten und in Schaufenstern; sie bearbeiteten Bügeleisen genauso wie Puppen, schufen Skulpturen, Objekte, Ready-mades – und inszenierten spektakuläre und revolutionäre Ausstellungen.

Die „Surrealen Dinge“ sollten den Kern des Konzepts bilden, von dort aus sollte das Projekt aufgebaut und strukturiert sein. Von den Teilnehmern erfahren werden sollten die Prinzipien des Surrealismus (z.B. Kombination, Verfremdung, Metamorphose), jedoch arbeiteten die Schüler mit heutigen Gegenständen und konnten somit die eigene Lebenswelt erschließen und einschließen. Und das Projekt sollte in einer ungewöhnlichen und öffentlichkeitswirksamen Ausstellung münden, nämlich in einem Einkaufszentrum. Gemeinsam entstand ein Großprojekt aus 15 Klassenprojekten mit vielen Einzel- oder Gruppenarbeiten. Jede Klasse wurde von einem Team aus einer Lehrkraft und einem Studierenden der Kunstpädagogik angeleitet. An der Justus-Liebig-Universität Gießen fanden zwei Seminare im Rahmen der Bildungspartnerschaft (vgl. Hofmann/Metz 2010) statt[7], in denen Teile des Projekts erarbeitet, kritisch reflektiert und nachbereitet wurden. Allein die Durchführung umfasste drei Monate, es entstanden etwa 180 Schülerarbeiten und eine spektakuläre Präsentation im Einkaufszentrum „MyZeil“[8].

Analyse einer Schülerarbeit

Für die Untersuchung der Wesensmerkmale des Projekts wird die unbetitelte Arbeit einer Schülerin der zehnten Klasse eines Frankfurter Gymnasiums herausgegriffen. Ihre einzelnen Arbeitsschritte wurden in der Klasse dokumentiert, so dass sie nun nacheinander eingehend betrachtet werden können.[9]

Die erste Skizze (Abb. 2) zeigt eine klare Idee: Der vorhandene Stuhl wird mit Gegenständen kombiniert und seiner Funktion beraubt; man kann eigentlich nicht mehr darauf sitzen. Zudem erlebt er eine Metamorphose, denn durch die hinzugefügten Brüste und das männliche Glied wird er menschenähnlich. Indem er männliche und weibliche Geschlechtsteile aufweist, zeigt er eine Kombination von Widersprüchlichem und ist damit auf den ersten Blick überraschend, hat Witz, ist sinnlich und vielleicht auch erotisch aufgeladen. Die Schülerin, so könnte es ein Lehrer mit spitzem Bleistift notieren, hat hier also wesentliche Prinzipien des Surrealismus verstanden und in den Entwurf eingearbeitet. Völlig außen vor bleiben in der Skizze noch die Konstruktion, die Materialität, die Farbigkeit, die Oberflächenbeschaffenheit, die Präsentationsform usw. – zu erkennen ist eine reine Idee.
Im nächsten Schritt galt es das passende Material zur Idee zu suchen. Erstaunlicherweise haben sich sehr schnell Plastik-Brüste gefunden: In einem Scherzartikel-Laden entdeckte die Schülerin kugelrunde Gummibrüste, die eine relativ lebensnahe Bemalung aufwiesen, (bis hin zu leicht durch die Haut scheinenden Adern) (Abb. 3).
In der Arbeitsphase jedoch gab es dann ein ernstes Problem: Wie befestigt man diese Gegenstände am Stuhl? Klebstoff hielt auf dem Gummi nicht, und das Befestigen mit Klebeband war unbefriedigend (Abb. 4): Wir sehen beigefarbenes Kreppband senkrecht um Brüste und Stuhllehne gewickelt, die Brüste sind dadurch verformt, die straff festgezurrte linke wird der Ordnung des Stuhles angepasst, ist ziemlich exakt oval und in ihrer Breiten- und ihrer Tiefenachse parallel zu jenen des Sitzmöbels ausgerichtet. Die etwas „haltlosere“ rechte Brust dagegen neigt sich nach unten und zur Mitte hin und hat dadurch mehr plastische Wirkung; dort, wo das Klebeband darüber läuft, ist sie jedoch deutlich deformiert. Und farblich gehen der künstlich-pastellrosa Anstrich des Stuhles, die etwas bräunliche Hautfarbe der Brüste und das gelblich-beige Kreppband kaum zusammen.

In der Arbeit mit dem Material war also aus einem technischen Problem (Befestigung) ein formales Problem entstanden. Der Schülerin war klar: Es muss eine bessere Lösung her. Sie experimentierte und überlegte weiter, diskutierte in der Klasse und kam vom Klebeband zum Verschnüren (eine gewisse Sado-Maso-Ästhetik ist auch im Surrealismus durchaus vorhanden[10]). Parallel tauchte ein weiteres Problem auf: Welchen Gegenstand soll man für den Phallus nehmen? Die Schülerin fand kein Material, das ähnlich realistisch-unrealistisch wie die Gummibrüste war. Gemüse beispielsweise schied aus, weil es die Schülerin weder formal noch inhaltlich für angemessen befand, und so entstand auch auf diesem Feld ein formales Problem.

Die Lösung fand sich dann in einem schlichten, langen Nagel (Abb. 5). Und auch für die Befestigung der Gummibrüste entwickelte die Schülerin eine geeignete Lösung: Sie sind nun mit Draht festgezurrt. Das Objekt ist formal erkennbar stimmig: Es zeigt sich ein widerstreitendes Zusammenspiel der Materialien, Zwang und Widerstand sind sichtbar[11]. Die Materialien bilden starke Kontraste: In der Farbigkeit steht das kalte, graue Metall von Draht und Nagel gegen die warme Farbigkeit von Haut und Stuhl, in der Form der starre Nagel gegen den ergonomisch gerundeten Stuhl und der schmale, lineare Draht gegen das Volumen der Brüste. Vor allem aber: Die Arbeit hat eine noch stärker affektive Wirkung[12]. Denn der Draht schneidet geradezu in die Brüste ein, presst die einst kugelrunden Gummiteile an die Stuhllehne, bildet Einkerbungen und fordert Wölbungen heraus. So entwickelt das Objekt eine psychologische Wirkung: Es schmerzt geradezu, wenn man das Objekt ansieht. Der Schülerin ist es also gelungen, den Betrachter noch stärker affektiv zu berühren als im ursprünglichen Entwurf, und das sogar bei reduzierter Form.

Es wird deutlich, dass die Schülerarbeit – die auf einer eigenständigen und originellen Idee basiert – Schritt für Schritt mehr Elemente surrealistischer Kunst einsetzt. Wir haben die erste Skizze betrachtet, die als reine Formulierung einer Idee bzw. eines Gedankenspiels im surrealistischen Sinne zu sehen ist. Anschließend konnten wir die künstlerische Auseinandersetzung nachvollziehen, die nur deswegen auf diese Weise verlief, weil sie von vorgefundenen Materialien angestoßen wurde[13]. Und wir konnten eine affektive Zuspitzung des Objekts erkennen, mit der das Werk deutlich über seinen ersten Entwurf hinaus gesteigert wurde und eine Wirkung auf den Betrachter erreichte, die auch in der Kunst des Surrealismus angestrebt wurde. Im Verlauf dieser einzelnen Arbeitsschritte konnten wir nachvollziehen, dass die Entwicklung in klar abgegrenzten Schritten erfolgte: Von der reinen Idee über konkretes Material zu einer durch Form und Material induzierten Lösung hin zur affektiven Wirkung.

Worin liegt der Grund für diese auffällig schrittweise Arbeitsweise? Und woran liegt es, dass tatsächlich Elemente des Surrealismus nicht nur im Ergebnis, sondern in der Arbeitsweise erkennbar sind?

Besonderheiten in der Projektstruktur

Ein Blick auf die Struktur des Projekts bietet möglicherweise Antworten darauf. Der zeitliche Verlauf des Projekts (Abb. 6) zeigt in Blau eine relativ gewöhnliche Abfolge: Nach einer langen Phase der Entwicklung eigener Ideen gingen die Schüler in die Arbeitsphase über, in der individuelle künstlerische Werkprozesse realisiert wurden. Später bauten sie ihre Arbeiten im Einkaufszentrum selbst auf und mussten sich so ganz konkret mit dem Ort, dem Publikum, den Werken anderer Schüler und dem gemeinsamen Thema auseinandersetzen. Den Abschluss bildete die Präsentation der Schülerarbeiten.

In Rot sind kunstpädagogische Impulse innerhalb des Projekts ausgewiesen: Am Anfang setzten die Studierenden in den Klassen einen Auftakt zum Thema Surrealismus, in dem Grundwissen vermittelt und mit spielerischen Elementen und künstlerischen Experimenten Lust auf das Thema gemacht wurde. Anschließend begann eine Auseinandersetzung mit Materialien aus den Geschäften. Die Schüler durchforsteten das Einkaufszentrum, ließen sich von Gegenständen und Schaufensterpräsentationen inspirieren und untersuchten die ausgewählten Waren. Schließlich besuchten sie gemeinsam die Ausstellung in der Schirn[14], bei der die auf den ersten Blick oft unscheinbaren, in ihrer affektiven Wirkung aber eindringlichen Werke nicht nur betrachtet, sondern vielmehr erfahren wurden. Durch die inszenierte Präsentation der Kunstwerke in kleinen Kabinetten mit dunkelroten, samtbespannten Wänden und punktueller Beleuchtung wurde der Ausstellungsbesuch zudem zu einem sinnlich-emotionalen Erlebnis – durchaus im Sinne der Surrealisten.

Diese Impulse finden sich genau abgebildet in dem, was im Werkprozess der untersuchten Schülerarbeit auffällig war. Am Anfang korreliert die reine Idee eines surrealistisch verfremdeten Gegenstandes mit dem Auftakt zum Surrealismus: Das Wissen zum Surrealismus – noch abstrakt und theoretisch – wurde in eine eigene Idee überführt. Im nächsten Schritt setzte die Auseinandersetzung mit Material eine formale Auseinandersetzung in Gang. Und schließlich erfolgte eine entscheidende Steigerung nach dem Besuch der Ausstellung (in der ja eindringliche Werke in einer hoch emotionalen Inszenierung erlebt wurden): eine Konzentration auf die affektive Wirkung der Schülerarbeit.[15]

Ob der weitere Verlauf des Projekts, insbesondere der gemeinsame Aufbau und die gemeinsame Präsentation, ebenso Spuren in der Schülerarbeit hinterlassen hat, müsste eine Untersuchung der Arbeit im Zusammenhang mit den anderen Schülerarbeiten klären, die auch auf die Präsentationsweise, den Ort usw. eingeht. Dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.[16]

Die besondere Wirksamkeit der oben genannten kunstpädagogischen Impulse lässt sich damit erklären, dass sie nicht zufällig oder individuell durch einzelne Pädagogen eingesetzt wurden, sondern grundlegende und verbindende Elemente der Projektstruktur waren. Während die individuellen Projektideen, Arbeitsweisen und Produkte der Schüler unterschiedlich ausfielen, waren diese Elemente für alle Beteiligten verbindlich und gleichartig (Abb. 7):

·         Der Auftakt zum Surrealismus war in jeder Klasse ähnlich (wenn auch nicht identisch), da er von den Studierenden gemeinsam im Seminar erarbeitet wurde.

·         Der Prozess des Findens von Material und der Auseinandersetzung damit war für alle Teilnehmer gleich angelegt und verlief ähnlich.

·         Der gemeinsame Ausstellungsbesuch war für die Schüler so vorgesehen, dass er für alle eine sinnlich-emotionale Erfahrung bot.

·         Der Aufbau als Brennpunkt des künstlerischen Prozesses wurde gemeinsam realisiert. Dies schloss Erfahrungen des Konflikts, der Entdeckungen, des Scheiterns und Gelingens mit ein.

·         Die Präsentation bildete als gemeinsames Ganzes einen Abschluss.

Zudem ist auffällig, dass all diese verbindenden Elemente aus der Kunst, ihrer Produktion und Präsentation abgeleitet wurden und damit wesentliche Erfahrungen des Künstlerischen[17] nachvollziehen ließen: Idee, Werkprozess, Kunstrezeption, künstlerisches Agieren in der Welt[18], Ausstellung. So lässt sich nachvollziehen, inwiefern das Projekt „von Kunst aus“ gedacht und konzipiert war: Elemente des Künstlerischen – insbesondere aus der Kunst des Surrealismus (einschließlich ihrer Produktion und Präsentation) abgeleitet – bildeten den Ausgangspunkt der

Konzeption und schufen sichtbar Verbindungen zwischen allen Teilnehmern.

Wenn das Original wirksam wird – ein Fazit

Die Ergebnisse zeigen:

1. Die Schülerarbeit entstand auffällig schrittweise.

2. Die Schülerarbeit weist in der Arbeitsweise Wesenszüge des Surrealismus auf. 3. Die Projektstruktur enthält gezielte Impulse; sie korrelieren sowohl zeitlich als auch inhaltlich mit den Entwicklungsschritten der Schülerarbeit. Offenbar wurden die künstlerischen Entwicklungsschritte in der Schülerarbeit durch die besondere Projektstruktur mit ihren gezielten Impulsen begünstigt oder gar ausgelöst.

4. Diese Impulse bildeten zentrale und verbindende Elemente des Projektes.

5. Sie wurden erkennbar aus der Kunst des Surrealismus hergeleitet.

Insofern lässt sich schließen, dass das Projekt von Kunst ausgehend konzipiert war, sich in dieser Weise auf die Tätigkeit der Schüler auswirkte und letztlich einen besonderen, kunstbezogenen Arbeitsprozess sowie ein stark von der zugrundeliegenden Kunst geprägtes Ergebnis nach sich zieht. Wäre das Projekt primär von einem Lernziel, einem Thema oder subjektiven Bildungsprozessen her gedacht, hätten Projektstruktur und -ergebnisse anders ausgesehen. Hier hat sich das Denken vom Original aus bis in die Schülerarbeit hinein ausgewirkt.

Für die kunstpädagogische Praxis ist dies eine Ermutigung, mehr mit dem Original und vom Original aus zu arbeiten. Denn wenn Kunstwerke als Ausgangspunkt eines Projekts Schülern Rückenwind für die eigene bildnerische Arbeit geben, sollten sie immer einen zentralen Platz in der Konzeption haben.

Zitationsvorschlag:

Hofmann, Fabian: Vom Objekt zum Projekt. Kunstpädagogische Arbeit vom Objekt aus gedacht. Untersuchungen an einem Projekt zum Surrealismus.

In: Carl-Peter Buschkühle (Hg.): Künstlerische Kunstpädagogik. Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung. 1. Aufl. Oberhausen: ATHENA, 2012, S. 325–336.

Literatur

Barbe-Gall, Francoise: How to Talk to Children about Art. London 2005

Bertscheit, Ralf: Bilder werden Erlebnisse. Mülheim/Ruhr 2001

Buschkühle, Carl-Peter: Die Welt als Spiel. Oberhausen 2007

Buschkühle, Carl-Peter: Bildung im künstlerischen Projekt. Online verfügbar unter http://www.schroedel.de/kunstportal/bilder/forum/200711_text_Buschkuehle.pdf , zuletzt geprüft am 17.1.2012

Cremer, Claudia: Fenster zur Kunst. Ideen für kreative Museumsbesuche. Museumspädagogischer Dienst Berlin. Berlin 1996

Ehrenspeck, Yvonne; Schäffer, Burkhard (Hg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen 2003

Flick, Uwe: Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek 1995

Hofmann, Fabian; Metz, Sylvia (2010): Theorie im Praxistest. Interdisziplinäres Studium am Beispiel einer Bildungspartnerschaft der Universität Gießen und der Schirn Kunsthalle Frankfurt. In: BDK-Mitteilungen (3), S. 16.

Hooper-Greenhill, Eilean (Hg): The educational role of the museum. London [u.a.]: Routledge, 2007

Klein, Hans-Joachim; Bachmayer, Monika: Museum und Öffentlichkeit. Fakten und Daten Motive und Barrieren. Berlin 1981

Lehmann, Ulrich: Das surrealistische Objekt und das Subjekt im Materialismus: Anmerkungen zum Verständnis des Gegenstandes im Surrealismus. In: Hollein, Max; Pfeiffer, Ingrid (Hg.): Surreale Dinge. Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray ; [anlässlich der Ausstellung Surreale Dinge - Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 11. Februar - 29. Mai 2011], Frankfurt 2011, S. 129-164

Lichtwark, Alfred: Die Kunst in der Schule (1887). In: Ders.: Drei Programme. Berlin 1902.

Lichtwark, Alfred: Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken. Dresden 1898

Noschka-Roos, Annette: Besucherforschung und Didaktik. Opladen 1994

Otto, Gunter: Schule und Museum - Unterschiede und Gemeinsamkeiten an zwei Lernorten. In: Wagner, Ernst; Dreykorn, Monika (Hg.): Museum, Schule, Bildung. Aktuelle Diskurse - innovative Modelle - erprobte Methoden. München 2007, S. 15-18

Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975

Peez, Georg: Qualitativ empirische Forschung in der Kunstpädagogik. Hannover 2000

Peez, Georg: Erheben – Aufbereiten – Auswerten. Kunstpädagogik im Zeichen empirischer (Unterrichts-)Forschung. In:

Bering, Kunibert/Niehoff, Rolf: Impulse Kunstdidaktik 1. Oberhausen 2007, S. 22-32

Reussner, Eva Maria: Publikumsforschung für Museen. Bielefeld 2010

Rogoff, Irit: Turning. Online verfügbar unter http://www.e-flux.com/journal/view/18, 2008, zuletzt geprüft am 09.12.2011

Sturm, Eva: Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze. Wien 2011

Kunst+Unterricht 295/2005 „Anstöße zum künstlerischen Projekt“



[1] Zum Begriff des künstlerischen Projekts vgl. Buschkühle 2007a, Bd. 1, 168 f., Buschkühle 2007b sowie Kunst+Unterricht 295/2005 „Anstöße zum künstlerischen Projekt“.

[2] Ein Bericht über das Projekt ist erschienen in: BDK-Mitteilungen 2/2012, S. 19-23

[3] Die Gegenüberstellung der beiden Lernorte ist bei Otto mit keinerlei Wertung verbunden. Auch äußert er sich nicht dazu, ob die beiden Lernkonzepte komplementär zu sehen sind und wenn ja in welchem Verhältnis.

[4] Die Implikationen einer Kunstpädagogik „von Kunst aus“ untersucht Eva Sturm in ihrer gleichnamigen Habilitationsschrift, vgl. Sturm 2011

[5] Mir scheint dieser andere Ausgangspunkt auch ein didaktischer Vorteil zu sein. Die Erfahrung mit der Arbeit vor dem Original zeigt, dass Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene von einem Original meist sofort angestoßen werden, berührt, bewegt, irritiert… Die pädagogische Arbeit besteht dann darin, diesen Impuls aufzunehmen, zu modulieren, zu moderieren etc.

[6] Den Begriff der „Umsetzung“ entleihe ich Irmi Rauber, die dieses Prinzip in den vergangenen 20 Jahren in der pädagogischen Arbeit der Schirn Kunsthalle Frankfurt entwickelt hat.

[7] Ein fachwissenschaftliches Seminar mit dem Titel „Surrealismus“ unter Leitung von Sylvia Metz und das Seminar „Methoden der Vermittlung: Surreale Dinge. Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray" in der Schirn Kunsthalle“ unter Leitung von Irmi Rauber und Fabian Hofmann

[8] Der Autor war zu Beginn des Projekts an der Schirn Kunsthalle Frankfurt als Kunstpädagoge angestellt, später dort freiberuflich tätig.

[9]Die Betrachtungsweise ist angelehnt an die Ikonologie als Methode empirischer Bildungsforschung. Vgl. hierzu Ehrenspeck/Schäffer 2003, Panofsky 1975 (1955) und die kritischen Anmerkungen dazu in Flick 1995 und Peez 2000, S. 302 f.

[10] … und war in der Ausstellung mit Werken von Dorothea Tanning oder Hans Bellmer auch ganz klar erkennbar, in vielen anderen Werken unterschwellig zu entdecken.

[11] An dieser Stelle greift die Schülerin offenbar auf Themen der Gegenwartskunst und Alltagsästhetik zurück. Inwiefern dies erfolgte und inwiefern es reflektiert wurde, müssten weitere Untersuchungen, beispielsweise Interviews mit Schülerin, Mitschülern, Lehrer und begleitendem Studierenden, klären.

[12] Dabei fühlt man sich fast schon auf das Thema sexuelle Gewalt angesprochen. Die ursprüngliche Idee und der Umgang mit dem Material weisen jedoch deutlich darauf hin, dass diese Anspielung ironisch gemeint ist. Dass

unvorbereitete Passanten im Einkaufszentrum dadurch möglicherweise schockiert oder zumindest irritiert werden, entspricht durchaus einem dem Surrealismus vergleichbaren Denken.

[13] Die Arbeit mit dem Material scheint uns heute unspektakulärer als sie in der Zeit des Surrealismus war. Damals war sie geradezu revolutionär, ist auch inhaltlich zu verstehen und in Bezug zum Materialismus. Vgl. Lehmann 2011

[14] Der Ausstellungsbesuch wurde zwar am Anfang des Projekts, jedoch nicht als allererster Schritt eingesetzt. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die Schüler nicht durch Kunstwerke vorgeprägt werden, sondern mit eigenen Ideen beginnen und diese später ins Verhältnis zu den Werken der Ausstellung setzen.

[15] Insbesondere die affektive Wirkung eines Werkes lässt sich am besten vor dem Original erfahren; und sie lässt sich nur erfahren, kaum beschreiben, kaum vorher in einen Entwurf einplanen.

[16] Beiträge hierzu sind möglicherweise aus einer Magisterarbeit zu erwarten, die derzeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen entsteht.

[17] Vgl. Buschkühle 2007a

[18] Hier abgebildet durch das Einkaufszentrum, in dem unzählige Schüler und ihre Arbeiten unter gegebenen (möglicherweise zu verändernden) Bedingungen mit einem Publikum in Kontakt kommen.