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Betrachten wir zur
Verdeutlichung der methodischen Anwendung folgende Beispiele aus einer
Abschlussarbeit, die das „soziale Miteinander“
[Auszug Abschlussarbeit S. Becker] (2) in den Blick nimmt:
„Inmitten der Stellwände befinden sich circa 20
Personen, die teilweise einzeln stehen, teilweise in Gruppen auftreten.
Die meisten der sichtbaren Personen sind junge Erwachsene. Sie sind
schlicht gekleidet. Graue, blaue, beige und schwarze Kleidung werden
bevorzugt getragen sowie einige leichte Pastelltöne.
Ganz rechts am Bildrand sieht man einen älteren Herrn, der
nach links auf das Bild im goldenen Rahmen schaut. Er trägt
eine Brille, einen schwarzen Mantel und eine beige Hose. In der linken
Hand hält er ein schwarzes, längliches Gerät
an sein Ohr.
Über die rechte Bildhälfte verteilt befindet sich
eine größere Menschenansammlung. Die Gruppe
erstreckt sich bis kurz vor den rechten Rand des Fotos und besteht zum
größten Teil aus jungen Frauen, die wahrscheinlich
zwischen 16 und 20 Jahren alt sind. Zwei männliche Personen
stehen hinter den Frauen am Rand der Gruppe. Sie alle schauen zu den
zwei jungen Frauen weiter links im Bild, die ihrerseits der Gruppe
zugewandt sind. Die weiter vorne stehende dieser beiden Frauen steht
hauptsächlich auf ihrem linken Bein, der rechte Fuß
ist leicht vom Boden abgehoben. Sie trägt eine blaue Jeans,
braune Schuhe, ein weißes T-Shirt mit einer schwarzen Jacke
darüber und sie hat einen grauen schal dicht um den Hals
gewickelt. Die braunen Haare trägt sie offen. In ihren
Händen hält sie eine Klemmmappe, die sie locker vor
ihrem Bauch aufgestützt hat. Die blonde Frau neben ihr hebt
ihren linken Arm zum Kopf und ist hauptsächlich in Schwarz
gekleidet.“ [Auszug Abschlussarbeit S. Becker]
Eine Schulklasse befindet sich also inmitten einer Kunstausstellung,
und zwei Pädagoginnen stellen einführend die
Ausstellung vor. Die Studentin beschreibt in diesem Abschnitt
detailliert und fokussiert die räumliche Situation und die
Konstellation der Personen zueinander – hierbei bezieht sie
auch Einzelbesucher in ihre Beobachtungen ein, die nicht zu der
Schülergruppe gehören. Am genauesten beschreibt sie
die Kunstvermittlerin. Sie zählt eine Reihe von Details auf,
die beim flüchtigen Lesen überflüssig
erscheinen mögen, sich aber bei der genaueren Analyse als
wichtig erweisen.
links: Fotografie
der pädagogischen Situation |
In
einem nächsten Schritt erfolgt die Deutung der Situation
anhand der Körperhaltungen. Die Interaktion zwischen
Kunstvermittlerin und Schülern wird interpretiert und die
Stimmung bei der Durchführung der Station beschrieben:
„Nur bei wenigen Schülerinnen und Schülern
auf dem Foto kann man die Gesichter gut erkennen. Jedoch kann man auch
bei denjenigen, deren Gesichter auf dem Foto verdeckt sind, durch ihre
ruhigen, geraden und entspannten Körperhaltungen die
Aufmerksamkeit ablesen. Ihre Körper sind alle zu den
Kunstpädagoginnen gerichtet und die Kopfhaltungen verraten,
dass sie ihnen auch zuhören.“ [Auszug
Abschlussarbeit S. Becker]
Im dritten und letzten Schritt der Analyse werden Schlüssen
aus den vorangehenden Beschreibungen und Deutungen gezogen:
„Die Kunstpädagoginnen wirken selbstbewusst. Die im
Vordergrund stehende Kunstpädagogin schaut aufrecht in die
Gruppe und sucht Augenkontakt. Im Moment des Fotos bewegt sie sich
gerade von einem Bein auf das andere, denn die Konturen sind hier
verschwommen. Auch die dahinter stehende Kunstpädagogin ist in
Bewegung. Sie hebt gerade den linken Arm zum Kopf. […]
Entspannt hält die vordere Kunstpädagogin das
Klemmbrett vor sich. Es ist am Bauch aufgestützt, jedoch wirkt
die Haltung weder verkrampft noch unnatürlich. Sie ist sich
ihrer momentanen Aufmerksamkeit bewusst und meistert die vielen Blicke
selbstbewusst.“[Auszug Abschlussarbeit S. Becker]
Folgen wir dem Text der Studentin, so erhalten wir ein umfassendes Bild
der Situation. Sie beschreibt die Eingebundenheit in die
Ausstellungssituation: Die Vermittlung findet nicht in einer neutralen
Umgebung statt, sondern ist durch externe Faktoren beeinflusst. Der
Raum ist auf die Rezeption von Kunstwerken hin gestaltet, die
Vermittlung wird dadurch geprägt: Die Schüler stehen
vor den Pädagoginnen so, wie sie sonst im Museum vor einem
Kunstwerk stehen würden. Die Studentin hebt zudem die
informelle Atmosphäre hervor und das Aussehen der
Pädagoginnen, die sich kaum von den Schülern
unterscheiden, sowie die entspannte Körperhaltung und Gestik
von Pädagoginnen und Gruppe. Zweimal erwähnt sie das
Klemmbrett als Zeichen einer pädagogischen Rolle.
Eine ausdrückliche Deutung der Situation wird in der
Abschlussarbeit nicht geleistet. Doch der Text enthält
Elemente einer zusammenfassenden und evaluierenden Reflexion der
Situation: Sie wird als eine dialogische, intensive Begegnung zwischen
aufmerksamen Schülern und offenen Kunstvermittlern mit flacher
Hierarchie und deutlichen Unterschieden zu schulischen Situationen
beschrieben. Der Charakter der pädagogischen Situation wird
durch Fotoanalyse also offenbar; ebenso die Faktoren, die diesen
Charakter bestimmen: Auftreten und Verhalten der Kunstvermittlerinnen,
die Konstellation im Raum, die Raumgestaltung und die
Atmosphäre. Der besondere Raum, der Museumsraum,
führt also offenbar zu einer besonderen, museumsspezifischen,
Pädagogik.
In weiteren Fotoanalysen zeigten sich die konzeptuelle
Abhängigkeit einzelner Lernstationen von bestimmten
Kunstwerken oder von konkreten Rauminszenierungen. |